Warum mein Herz in Berlin Wochen(end)aufenthalter ist? Vielleicht, weil ich es schon als sehr junges Mädchen dort verloren habe. Diese Stadt faszinierte mich bereits mit fünfzehn Lenzen auf dem Buckel dermassen, ich kann dieses Gefühl kaum umschreiben. Es war und ist immer wie ein nach Hause kommen und gleichzeitig Urlaub zu verspüren. Ob grau, nass und kalt oder heiss, klebrig und verrückt – Berlin hat mich nie so richtig losgelassen.
Erst gerade vor ein paar Monaten hielt ich unsere Maturitätszeitung erneut in den Händen. Da stand es gross geschrieben:
Evelyn will nach Berlin oder New York um dort als Sängerin Karriere zu machen. Evtl. Marketing oder Public Relations studieren.
Oha. Zweiteres habe ich inzwischen hinter mir. Es sollte tatsächlich die Laufbahn Marketing werden, die Musik meine Begleitung. Doch weder ein Leben in New York oder Berlin konnte ich bisher verzeichnen. Und weil ich nun schon 32 Jahre alt bin und ich diese Bucketliste auch immer wieder von Neuem schreibe, stand da noch immer fett eingekreist «in Berlin leben». So dachte ich mir: wayne* not? Kurzerhand hab ich meinen Chef gefragt, der war etwas konfus und hat dann doch ganz cool eingewilligt. Also ging es im August für drei Wochen ins dicke B.
Was ich von A bis Z in 3 Wochen gelernt habe:
Warum drei Wochen? Weil es erst dann so richtig interessant wird. Bisher war das höchste der Gefühle um die 10 Tage, die ich bisher in Berlin verbracht hatte. Aber eigentlich weiss man doch erst nach dieser berühmt berüchtigten Verliebtheitsphase, wie das Gegenüber so wirklich ist, oder?
Anonymität: Abgesehen davon, dass ich an den Wochenenden Besuch aus der Schweiz empfangen durfte, habe ich bewusst gewählt, diese drei Wochen für mich alleine zu verbringen. Weg von allem Bekannten, näher zu mir selbst. Ob mir das unter den 3.5 Millionen Einwohner Berlins aber auch wirklich gelingen würde? Ich kann behaupten: Ja! Berlin ist eine Stadt, in der man sehr gut anonym leben und «sein Ding» durchziehen kann. Nur wenige Male habe ich mit meinen Mitmenschen interagiert und es so richtig genossen einfach mal Zeit für mich alleine zu haben. Wirklich toll war besonders die Zeit in der U-Bahn: kein Internet, dafür Podcast hören oder mal wieder ein Buch lesen.
Grenzen: An meine Grenzen bin ich zwar nicht gestossen, zu wohl habe ich mich in Berlin gefühlt. Allerdings musste ich doch erneut feststellen, wie gross die Hauptstadt ist. Zum Co-Working-Space brauchte ich fast eine Stunde täglich und ich verstehe nun, was die Berliner meinen, wenn sie von «ihrem Kiez» sprechen. Es gibt nicht viele Gründe diesen zu verlassen, schliesslich findet man alles, was man braucht, im eigenen Bezirk. Und doch kenne ich aus meinen etlichen Besuchen fast alle Stadtteile und picke mir jeweils das heraus, was mir dort am besten gefällt. Einen Favoriten zu nennen, könnte ich also gar nicht. Und das macht mich dann wohl wieder zur Touristin in dieser Stadt.
Grünflächen: Es gibt kaum eine Stadt, die so viele Grünflächen bietet wie Berlin. So viele schöne Park- und Gartenanlagen und besonders an lauen Sommernächten, wenn man nach dem Feierabend einfach irgendwo ins Gras sitzt und die Menschen beobachten kann. Sonntags ging es dann auch zum ersten Mal aufs Tempelhofer Feld – ein Highlight. Oder meine Fahrradtour durch den Tiergarten und das anschliessende Bier im Café am Neuen See. Natur ist also reichlich zu finden, nebst all den neuen Betonbauten und den schnieken Altbauwohnungen.
Hilfe: Leider musste ich auch die Schattenseiten der Stadt kennenlernen. Ich wurde Augenzeugin einer Schlägerei, in der ein Mann knapp am Tod vorbei «fiel». Dieses Erlebnis hat mich dann auch etwas länger beschäftigt, als mir lieb gewesen war. Und trotzdem versuche ich, auch in solchen Momenten, das Positive zu sehen. Denn hier war ich echt beeindruckt vom Engagement der Passanten. Gleich drei Mal wurde die Polizei angerufen, der Krankenwagen war im Nu da und die Polizei war sehr nett und zuvorkommend.
Minimalismus: Berlin ist eine einzige Baustelle. Doch manchmal muss man die Perspektive wechseln, um die Schönheit wieder zu entdecken. Gesagt und getan: zum ersten Mal nach über 17 Jahren entschied ich mich, eine Spreefahrt zu machen und die Stadt mal vom Wasser aus zu betrachten. Hat sich allemal gelohnt und der Tag war so perfekt, dass ich einfach nur über beide Backen strahlen konnte. Es sind eben doch die kleinen Dinge, die glücklich machen. Und in diesen drei Wochen, mit nur einem Koffer an Gepäck, musste ich ebenfalls feststellen, dass ich nicht minder so glücklich war oder ich die Gegenstände in meiner Wohnung vermisst hatte. Im Gegenteil – ich habe mich schon lange nicht mehr so befreit gefühlt. Ein Ansporn mehr mein zu Hause leichter werden zu lassen!
Oberflächlichkeiten: Wenn die Berliner U-Bahn schreiben könnte… es wäre sicherlich ein Bestseller von Buch! So viele unterschiedliche Menschen auf einem Haufen, viele witzige, traurige und schaurige Begegnungen. Eine davon, als eine Frau sich die Nase zuhielt und sehr despektierlich ihre Abneigung gegenüber dem Obdachlosen zeigen musste, der nach ein paar Euro fragte. Wie oberflächlich manche Menschen doch leider sein können. Einige solcher Szenen stimmten mich traurig und nachdenklich zugleich. Und dann war noch dieser Chewbacca-Hund, der mein Herz wiederum fröhlich werden liess.
Pfand: Apropos Hund! Bei Netto ging ich meist einkaufen, weil ums Eck. Und zum ersten Mal begriff ich, was es heisst Pfandflaschen zurückzubringen. Bares Geld! Ein Spiel, welches mir Spass machte. Flasche rein, Zettel an der Kasse abgeben, Euro einstecken. Traurig aber wahr: Was für mich eine spassige Abwechslung bedeutete ist für ganz viele Lebensunterhalt. Aus diesem Grund gab ich meine Zettel auch dem nächsten freundlichen Herrn, der mir das liebenswürdigste Lächeln schenkte in diesen drei Wochen.
Sommer: Der Sommer liess auf sich warten in Berlin und ist wohl oder übel im Urlaub verloren gegangen. Nicht, dass es permanent Schlechtwetter gegeben hätte, aber auf den bombastischen Sommertag zum Baden wartete ich leider vergebens. Nichtsdestotrotz hab ich mir das Badeschiff angeschaut und genoss Berlin in Sandalen – ich weiss ja, dass diese Stadt eigentlich auch anders kann. Nächstes Jahr dann hoffentlich wieder, damit wir alle mitsingen können «36 Grad und es wird noch heisser…».
Sucht: Wie bereits erwähnt, wurde ich leider Augenzeugin eines Disputs zwischen zwei Unbekannten, die allerdings eines gemeinsam hatten: beide hatten ohne Zweifel ein Alkoholproblem. Und dieses ist mir leider auch sehr häufig auf den Strassen begegnet. Wer aber gemässigt und mit Genuss Alkohol zu sich nehmen möchte, dem kann ich einen Besuch in der Bar «TiER» empfehlen. Türsteher, Atmosphäre und Drinks sind ein Highlight.
Touristen: Diesen Zoobesuch hatte ich nun wirklich Jahre vor mich hergeschoben. Nun hab ichs auch endlich von der Bucket-Liste streichen können und empfehle diesen Ausflug wirklich allen Touristen aber auch Einheimischen. Selten habe ich einen so schönen Zoo gesehen, richtig absurd kommt es einem vor, wenn man dann aber wieder mitten am Ku’damm oder Bahnhof Zoo steht. Ein kleiner Dschungel mitten in der Grossstadt. Merkwürdige Sache. Auch äusserst merkwürdig: die vielen Menschen zu jeder Uhrzeit. Entweder sind dies alles Touristen oder in Berlin leben nur Teilzeitarbeitende.
Vitaminmangel: Super fasziniert, nebst der Pfandabgabe im Supermarkt Netto, war ich bei Edeka über die grosse Auswahl an Produkten, die man dort kaufen kann. Ganze zwei Stunden verbrachte ich in einem grösseren Exemplar der Supermarktkette und staunte nicht schlecht. Einziges Manko: die Früchteabteilung. Mir scheint, dass man die frischen und saftigen Früchte doch lieber beim Türken um die Ecke kauft. Auf alle Fälle haben mich die Exemplare bei Edeka nicht überzeugt und so kam ich zum Schluss, dass ich in Berlin den besten Früchtehändler noch finden muss oder ich wohl mit dem Vitaminmangel leben müsste.
Zielerreichung: Lange Rede, kurzer Sinn? Nun ja, mein Ziel war es in Berlin zu leben und das habe ich in der Tat getan. Ich habe mich wohlgefühlt und kann behaupten, dass ich absolut und ohne grösseren Probleme in der deutschen Hauptstadt leben könnte. Will ich das? Hmm… aktuell nicht, zu schön ist es noch immer, in Berlin Touristin zu sein. Denn so entdecke ich stets Neues und bleibe nicht verwurzelt in einem einzigen Kiez. Eine Wiederholung für ein paar Wochen möchte ich nicht ausschliessen, denn auch für meine Arbeit hat es einiges getan: Mein E-Mail-Posteingang war noch nie so speditiv bearbeitet und ich habe in meiner Arbeitszeit viel mehr geschafft, als sonst. I’ll be back!
Berlin du bist so wunderbar
*an dieser Stelle muss ich passenderweise auf den Berliner Blog «This is Jane Wayne» aufmerksam machen. Er ist nämlich lesenswert, falls du ihn noch nicht kennen solltest.
Der Beitrag Das Leben in Berlin erschien zuerst auf DITO.